Fiona MacLeods Animus

von Rasputinka

Was für eine Seite wird das sein!
Sie wird uns das Geheimnis dessen enthüllen, wovon Oisin sang …
Und was Merlin wußte …
Und wie sich allmählich ein langer Schlaf auf die Insel senkte.
Und nur die schwankenden Gräser im Wind
Und der Wind selbst …
Und die zerbrochenen Schatten von Träumen im Geist der Alten
bewahren noch immer die Geheimnisse von Albion.

Fiona MacLeod

 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts atmeten die „Randgebiete“ der britischen Inseln – speziell Irland, Schottland und Wales – langsam wieder auf. Jahrhunderte teils äußerst aggressiver wirtschaftlicher Ausbeutung sowie politischer und kultureller Unterdrückung durch das britische Empire hatten die Nachfahren der Kelten an den Rand des Ruins getrieben.

Als sich der Würgegriff des Empire allmählich lockerte, keimte wieder so etwas wie ein Nationalgefühl in den keltischen Enklaven auf. Im kulturellen Bereich wandte sich eine wachsende Zahl von Gelehrten und Enthusiasten den Sagen, Gedichten und volkskundlichen Überlieferungen der Zeit vor der Ankunft der Normannen zu. Die einstmals verbotenen Nationalsprachen, das schottische und irische Gälisch, und das zeitweise als barbarischer „Dialekt“ geschmähte Kymrisch (Walisisch) wurden wieder belebt und gepflegt. Selbst anglo-irische Schriftsteller wie William Butler Yeats1 ließen sich von Irlands keltischer Vergangenheit verzaubern und schuf neue „alte“ Epen; eine keltische Renaissance war angebrochen. Der Funke sprang auf Schottland über; Alexander Carmichael2 begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, folkloristisches Material in den Highlands zu sammeln, und neben diesem authentischen Material entstanden auch neue romantische, vom keltischen Geist inspirierte Werke.

Unter den neuen Autoren tat sich auch eine junge Dame besonders hervor, die, fast wie eine der bezaubernden Feenköniginnen der alten irischen Sagen, unverhofft aus dem Nichts aufgetaucht war und ebenso unfassbar zu sein schien: Fiona MacLeod. Die äußerst publikumsscheue Autorin – sie trat niemals persönlich in Erscheinung, obwohl sie sich recht häufig schriftlich zu Wort meldete – schien an einem unbestimmten Ort auf den Hebriden zu leben. Ihre Gedichte und Romane, deren Schauplatz zumeist Westschottland oder auch die keltische Anderswelt waren, waren naturmystisch geprägt und gehören zu den bezauberndsten Werken dieser Epoche. Fiona MacLeod erschien leibhaftig im „Who´s Who“ der damaligen Zeit (wenn auch nirgendwo sonst) und der Verfasser des Artikels, ein bekannter Schriftsteller und offenbar Protektor der schüchternen Dame – er trat gelegentlich als ihr Agent auf – behauptete, sie nicht nur gut zu kennen, sondern sogar mit ihr verwandt zu sein. Engen Freunden gegenüber deutete er an, sie sei seine Geliebte. Tatsächlich traf das gewissermaßen zu, wie sich nach „Fionas“ Tod herausstellte: denn es handelte sich bei ihr um eben jenen Schriftsteller, William Sharp.

William Sharp war 1855 in Paisley, in der Nähe von Glasgow, als Sohn eines erfolgreichen Kaufmanns und der Tochter des schwedischen Vizekonsuls von Glasgow geboren worden. „Mit Herz und Seele keltisch“ hatte der mit lebhafter Phantasie begabte, aber auch einzelgängerische Junge als erstes von seiner aus den Highlands stammenden Amme die alten keltischen Legenden gehört. Er besuchte die Universität von Glasgow, verließ sie aber ohne Abschluß; sein Hauptinteresse galt der Natur, der Folklore, Fremdsprachen und der Literatur.

Zuerst versuchte er sich als Rechtsanwalt, hatte dann aber einen schlimmen Anfall von Typhus und lebte eine Weile in Australien, wo er zu schreiben begann. Wieder zurück in London übte er verschiedene andere Berufe aus, blieb aber letztendlich beim Schreiben, wenn auch weniger als Autor denn als Literaturjournalist und Herausgeber. 1884 heiratete er seine Cousine Elizabeth Sharp, Herausgeberin einer Zeitschrift namens Lyra Celtica, mit der ihn von Kindheit an viele gemeinsame Interessen verbanden. Durch die Kontakte seiner Frau und seine eigenen, zu denen unter anderem Dante Gabriel Rossetti3 gehörte, gelang es ihm, sich zu etablieren, und die Sharps – alle beide – hatten schon bald einen gewissen Bekanntheitsgrad in der literarischen Szene Londons. Sharp veröffentlichte während dieser Zeit drei Gedichtbände, schrieb viele Artikel und Rezensionen und gab die Werke anderer Schriftsteller heraus.

Im Herbst 1890 reisten William und Elizabeth zuerst nach Deutschland und dann nach Italien. Im Januar trafen sie in Rom Edith Wingate Rinder, Tochter einer engen Freundin Elizabeths, und William verliebte sich in die hübsche, junge Frau. Inspiriert von der Begegnung schrieb und veröffentlichte er noch in Rom ein schmales Bändchen mit dem Titel Sospiri di Roma, eine Romanze, deren Qualität das, was er bisher geschrieben hatte, bei weitem übertraf.

Zurück in London begann er unter dem fortdauernden Einfluß seiner Beziehung zu Edith eine Romanze mit dem Titel Pharais zu schreiben, die in Westschottland spielte. Die Geschichte einer zum Scheitern verdammten Liebesbeziehung spiegelte seine eigene Beziehung zu Edith wieder. Aus Furcht vor den Londoner Kritikern, die eine romantische Liebesgeschichte aus der Feder des seriösen Schriftstellers William Sharp wohl kaum ernst genommen hätten, beschloß er, das Buch unter einem weiblichen Pseudonym zu veröffentlichen, mit einem eigens erfundenen Vornamen: Fiona4 MacLeod.

Pharais und sein darauffolgendes Werk The Mountain Lovers, eine weitere westschottische Romanze, veränderten Sharps Leben. Die Bücher wurden so populär, daß Fiona zunehmend an Substanz gewann. William bat seine Schwester, Mary Sharp, Fiona ihre Handschrift zu leihen und schickte ihr Entwürfe für Briefe, die sie dann kopierte und an Zeitungen und Herausgeber schickte. In den letzten zehn Jahren seines Lebens führte William ein literarisches Doppelleben. Fiona schrieb romantische Geschichten und Gedichte, William hingegen versuchte sich an Romanen, Rezensionen und fungierte weiterhin als Herausgeber, unter anderem für Fiona. Obwohl ihm der Streß dieses Lebens gesundheitlich sehr zusetzte, weigerte er sich, seine Urheberschaft zu enthüllen; er fürchtete, es würde seine Kreativität blockieren und er würde die Fähigkeit verlieren, diese Geschichten zu schreiben, wenn er die Fiktion von Fionas Realität zerstörte.

Trotz seines robusten Äußeren war er niemals besonders gesund gewesen, war in seiner Jugend mehrmals schwer erkrankt und litt an Diabetes. Im Dezember 1905 starb er an Herzschwäche. Der beliebten Fiona MacLeod hätte eventuell eine Rente von öffentlicher Hand zugestanden – Geld, das die Hinterbliebenen Sharps gut hätten brauchen können – aber für den Schriftsteller William Sharp stand das nicht zur Verfügung. Er hatte Fiona bis zuletzt vor ihrer Verbannung bis hinter die neunte Welle behütet.

William Sharp liegt in Sizilien unter einem keltisches Kreuz begraben; seine Heimatstadt widmete ihm ein Doppelporträt – William mit Fiona – das in der Zentralbibliothek Paisley zu sehen ist. 1975 wählte ein Londoner Verlag als Name „Wilfion“ und publizierte 1980 die sogenannten Wilfion Papers, die durch ein Medium posthum von Sharp diktiert worden sein sollen.

Eine etwas obskure Quelle sagt Sharp eine Verbindung zum Order of the Golden Dawn nach sowie die Zugehörigkeit zu einer nicht näher benannten esoterischen Gruppierung, die sich passenderweise der keltischen Göttin Brighid, der inspirierenden Flamme der Poeten, verschrieben haben sollte. Die gleiche Quelle sagt auch, Fiona MacLeod sei sein inneres weibliches Bewußtsein gewesen, und, da Sharp sie selbst zuweilen als eine Art Seherin oder Ahnengeist bezeichnet hatte, die Göttin in ihm – vielleicht könnte man sie auch als seine Anima bezeichnen, den weiblichen Anteil seiner Seele.

„Wilfions“ Texte wurden schon sehr früh ins Deutsche übersetzt, einige seiner Gedichte vertont, und einige seiner Werke auch dramatisch umgesetzt; so existiert sogar ein Theaterstück namens „Das grüne Leben“, (Welt-) uraufgeführt am 11. Juli 2001 in Nabburg, Ostbayern. Aber die seltsamste Blüte, die auf den Spuren von William Sharp, der manchmal als Vater (und, mit ebensoviel Recht, als Mutter) der keltischen Renaissance bezeichnet wird, gewachsen ist, ist sicherlich ein Avantgarde-Theaterstück mit Namen The Golden Dawn:

Im Jahr 1900 kämpfen William Butler Yeats, ein noch-nicht-berühmter Poet des neuen Zeitalters, und der „Meister der schwarzen Magie“ Aleister Crowley um die Führung des berüchtigten Ordens5, als die mysteriöse, zurückgezogen lebende Autorin Fiona MacLeod initiiert werden soll. William Sharp, ein bekannter viktorianischer Kritiker, erscheint uneingeladen auf der Suche nach seiner Cousine Fiona, wird aber abgewiesen. Nichtsdestotrotz taucht Fiona später doch noch auf und wird von dem charismatischen Crowley im Doppelpack mit der berühmten viktorianischen Schauspielerin Florence Emery verführt. Das satirisch-poetische Stück endet mit einer überraschenden Wendung…

Was da wohl die Überraschung gewesen sein mag?

 

Anmerkungen:

1- Irischer Schriftsteller (1865 – 1939). Er war ein führender Vertreter der Irisch-Keltischen Renaissance innerhalb der irischen Literatur und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts.

2- Steuerbeamter (1832 – 1912) in Schottland und auf den Hebriden, freiberuflicher Folklorist. Er sammelte alte schottische Hymnen, Invokationen, Segen, Gebete und Zaubersprüche.

3-  Maler und Dichter (1828 – 1882), Gründungsmitglied der Präraffaeliten, einer Gruppe avantgardistischer Künstler und Kunstkritiker seiner Zeit.

4- Vom neugälischen Wort fionn, das „weiß“ oder „schön“ bedeutet; allerdings werden im Gälischen Feminina nicht mit –a gebildet, es handelt sich also um eine latinisierte Neuschöpfung Sharps.

5- Eine Begegnung dieser beiden Personen hat übrigens tatsächlich einmal stattgefunden, wenn auch gewiß nicht in dieser Form.

Quellen:
www.dreampower.com/fiona_macleod.html – William Sharp and the Esoteric Orders
www.medievalscotland.org/problem/names – Zum Namen “Fiona”
www.popplays.com/the1.htm – The Golden Dawn
www.sas.ac.uk/ies/williamsharp.htm – The William Sharp „Fiona MacLeod“ Archive
www.slainte.org.uk/scotauth/sharpdsw.htm – Scottish Authors: William Sharp
www.sundown.pair.com – Sundown Shores publiziert einen Großteil der Werke von William und Elizabeth Sharp online und frei zugänglich in der Originalsprache.